4000 müM ist auch für Bolivien bemerkenswert hoch! |
Stelle Dir den absolut miesesten Arbeitsplatz in der Schweiz vor. Nimm einen zwanzigstel des Lohnes, den Du dort erhalten würdest. Erhöhe die Umgebungstemperatur des Arbeitsplatzes auf 40°C. Entferne alle maschinellen Hilfsmittel. Du darfst nur in der Nacht resp. bei Kunstlicht arbeiten. Nimm der Luft einen Teil des Sauerstoffes und gib dafür nicht zu knapp giftige Gase dazu. Wirf jetzt alle Schutzvorrichtungen und Schutzkleider weg. Sei Dir bewusst, dass Du an diesem Arbeitsplatz weder auf eine Gewerkschaft zählen kannst noch auf irgend ein staatliches Gesetz.
Gelingt es, all das Dir vorzustellen? Dann bist Du reif für die Mine in Potosì.
Der Besuch dieser Mine ist für mich kein reiner Spass. Ich durchlebe alle Gefühle: Staunen, Erschrecken, Spott, Wut, Erbarmen, Hilflosigkeit, tiefe Dankbarkeit für mein Schicksal.
Das ist der Cerro Rico, der Silberberg, in dem während der Kolonialzeit 8 Mio Indios an den Arbeitsbedingungen starben. |
Heute stirbt "nur" noch täglich ein Minenarbeiter an Unfall oder Staublunge.
Mein Führer Antonio, ein ehemaliger Minenarbeiter, holt mich beim Hotel ab. Mit Mühe kann ich erkennen, welche Sprache er nuschelt: Offenbar versucht er es mit Englisch.
Vorbei geht es an vielen kleinen Läden, die Bergmanns-Bedarf verkaufen: Pickel, Stiefel, Lampen, Brecheisen, Säcke, Winden, ... Später erfahre ich, dass die Bergleute alles selber stellen müssen, sie erhalten gar nichts, auch nicht Schutzkleidung, zur Verfügung gestellt.
Wir halten vor einem Stand mit Gegenständen des täglichen Bedarfs: Coca-Blätter, selbstgedrehte haschähnliche Zigaretten, 96%iger Trinkalkohol, Dynamit mit Zünder und Zündschnur, Süsswässerli. Auf Geheiss Antonios decke ich mich mit solchen Dingen zwecks Geschenk an die Minenarbeiter ein.
Antonio geht mir voraus zu einem Umkleideraum. Die 4200 müM lassen mich keuchen wie eine Dampflokomotive. Kann man in dieser Höhe überhaupt körperlich arbeiten? Sicherheitshalber stopfe auch ich mir eine Backentasche voll mit Cocablättern und gebe ein Stück "Katalysator", ein Gemisch aus Kartoffelpulver, Zucker und Geheimnis, dazu.
Kurz nach dem Stolleneingang treffen wir in einem kleinen Seitenstollen auf Tìo: Eine lebensgrosse sitzende Lehmfigur mit Hörnern und einem erigierten Penis. Antonio erklärt mir, dass er gläubiger und praktizierender Katholik sei, aber in der Mine glaube er an Tìo, hier entscheide er über Leben und Tod, ihn gelte es unbedingt bei Laune zu halten. Der Ex-Minero verfällt in ein Gebet, dann streut er Cocabläter über beide Hände, beide Stiefel und den Penis, begiesst vor allem diesen mit dem 96er Schnaps und heisst mich, ihm gleichzutun. Dann legen wir ihm je eine superstarke brennende Zigarette, Grösse XXL, in die rechte Hand und in den Mund.
Mindestens jeden Freitag muss dem Tìo gehuldigt werden: Beten. Cocablätter streuen, Zigarette anzünden, zusammen mit ihm trinken.
Gearbeitet wir praktisch ausschliesslich von Hand: In verbeulten Kübeln wird mit einem Seil das Gestein heraufgezogen, in Kartoffelsäcken zur Lore getragen, diese gebückt weggestossen. Warum keine Presslufthämmer? a) Woher nehmen? b) womit bezahlen? c) die Erschütterungen könnten den Schacht einstürzen lassen.
Nur bei ergiebigen Adern lohne es sich, eine Steinrutsche zu bauen.
Ich frage den geschätzt 45 jährigen, leicht hinkenden, sehr buckligen Antonio nach seinem Alter: Er sei jetzt 29 und der Entschluss, nicht mehr im Cerro Rico zu arbeiten, sei der beste Entschluss in seinem Leben gewesen. Er gehe jetzt in eine staatliche Schule, um etwas anderes zu lernen. Allerdings wisse er nich, wo arbeiten: Die Regierung unterlasse in Potosì ganz bewusst jegliche Ansiedlung einer anderen Industrie.
Denke ich an die Antonios, wenn ich billige Zink-Batterien kaufe? Und geht es den Antonios besser, wenn ich die teurere Sorte kaufe? Irgendwo las ich den Satz "Die Kapitalisten und Börsianer sterben nicht an Staublunge, im Gegenteil, sie leben von ihr".
Ich beruhige mein Gewissen ein kleines bisschen, indem ich Antonio ein Nötchen gebe, das nicht ein Trinkgeld, sondern ein Geschenk ist.
Tagebucheintrag vom 26. Juni 2012
Der Flug von Sucre nach El Alto/La Paz ist familiär: Wir sind zu fünft in einem Propellerflugzeug, das nur Fensterplätze hat. Dafür fehlt ein WC. Der Morgen ist klar, die Luft knochentrocken, ich kann also jedes Detail in den Bergbauerndörfern sehen.
Ich habe die Flüge für meinen Kurzbesuch in der Schweiz so gebucht, dass ich einige Stunden in La Paz sein kann. Wenn ich auch in dieser Zeit die Stadt nicht kennenlernen kann, so habe ich doch die Möglichkeit für eine Blitzlichtaufnahme, für einen ersten Eindruck.
Die Strassen in El Alto sind komplett verstopft. Dort und auf der Schnellstrasse nach La Paz zeigt mein Taxichauffeur, dass er ein echter Krieger ist. Er kämpft kompromisslos und hart um jeden Zentimeter – und gewinnt oft. Autofahren in Bolivien muss weniger gefährlich sein als bei uns: Auf der Schnellstrasse fährt er bei 90 km/h auf eine halbe Autolänge aufs Vorderfahrzeug auf und stellt dann eine Telefonnummer auf seinem Handy ein.
In La Paz finden zufällig heute drei Grossanlässe gleichzeitig mit entsprechend lebhaftem Betrieb statt: Heute muss das nationale Hupfest gleichzeitig mit dem Kongress der Blinden und dem grossen Zusammenkommen aller Marktfahrenden Boliviens sein. Das zeigt sich so: Alle Autos und Collectivos hupen ununterbrochen, in allen Tonlagen, in allen Variationen. Aber die Hauptvorführung scheint erst später zu sein, das Gehupe ist noch so unkoordiniert wie die Töne einer Blechmusik, wenn sich die Bläser vor dem Konzert warm spielen.
Für die offenbar vielen Blinden geben sich die Bolivianos alle Mühe: jeder Taxifahrer schreit aus seinem angeschriebenen Auto ununterbrochen „TaxiTaxiTaxi!“, ein Mann, der mit mehreren Kilos Sicherheitsnadeln behangen ist, schreit ohne Atempause das gleiche Wort (ich nehme an, „Sicherheitsnadeln!“), der Herr über mehrere Quadratmeter Tischfläche voller Malenschlösser lotst die des Sehens nicht Mächtigen stimmgewaltig zu sich usw.
Zusammenkunft der Marktfahrenden: Jede von mir erklommene oder hinuntergestiegene Strasse ist mehr oder weniger lückenlos und beidseitig mit Marktständen belegt: 100 m Nägel, dann 150 m Sandalen, 60 m Pfannen, 10 Minuten Jeans, ... Und auf der Strasse, zwischen den Collectivos, schreien Honigverkäufer, Anbieter von Salatsieben oder von Keilriemenverkäufer um die Gunst der Blinden. Wahrscheinlich ist es eine internationale Zusammenkunft, ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass Bolivien allein so viele Marktfahrer hat!
Neben einer sehr kleinen und extrem breiten Marktfrau (nur füllig oder unzählige Röcke und Schürzen?) lasse ich mich auf ein Schemeli auf dem Trottoir nieder und bitte um ein Mittagessen. Schon halte ich einen Teller Suppe mit einer ganzen Hühnerkralle auf den Knien. Nach Huhn, Kartoffeln und Reis reicht sie mir einige Blätter von der WC-Papierrolle (zur Mund- und Fingerreinigung).
Wenn ich mir das zweite Mal in meinem Leben die Schuhe reinigen lassen werde, muss ich besser aufpassen: Wenn mir der Schuhputzer auf die Sohle tippt, werde ich den Fuss wechseln, bevor er mich fassungslos-entsetzt wegen meines Nichtreagierens anschaut.
Der Taxista, der mich zum Flughafen zurückbrachte, hatte Glück: Weil eine Gruppe Leute umwelt-ungerecht zwei Dutzend Pneus mitten auf der Strasse entsorgte – anzündeten! - endete dort unser Auftragsverhältnis und wegen höherer Gewalt ohne Preisnachlass. Ich musste die Strassenblockade zu Fuss passieren und auf der anderen Seite mich einem Wucherer ausliefern – auch er nutzte die Gunst der Stunde – nämlich die kleine Anzahl Taxis auf dieser Seite.
Wenn ich noch besser spanisch verstehe, werde ich eine Indio fragen, wie ihr Zylinderchen auf dem Kopf hält. Es sieht aus wie von einem Kindergärtler gezeichnet: Ganz zuoberst auf dem Kopf ist der Hut leicht schräg hingestellt. Entgegen den physikalischen Gesetzen fällt er aber nicht herunter.
Liebe Grüsse vom Kurztripp in die Schweiz
Lukas
Ach Däd....irgendwie beschreibst du ganz genau all das, was ich vor ein paar Jahren gesehen und gedacht habe. Ich werde nie vergessen, wie die Kinder Sonntags vor der Mine gespielt haben und es mir das Herz gebrochen hat.
AntwortenLöschenIch habe den 96% Alkohol mal im Tee getrunken, aber ich hatte bei jedem Schluck Angst, zu erblinden (sollte mal wieder zum Optiker, dickere Gläser verlangen...)
Ich freu mich schon aufs Erlebnisse austauschen!!
Hört ihr auch immer die Frauen "Loteria para hooooooooy!" schreien?
Isabelle
Krass!Man weiss ja das alles, aber wenn es einem wieder so beschrieben wird, wird man einmal mehr verzweifelt...
AntwortenLöschenregula
Hoi mitaenand
AntwortenLöschenau i lese euri Bricht und stune was es alles git
machets guet und uf Wiedeluege
Pilger Johann us Cahors