Sonntag, 29. September 2013

Das andere Kanada


Halifax - Fundy Bay - Cape Breton - Louisbourg - 
Amherst - Kouchibouguac N.P. - Quebec - Montreal















Der Wechsel vom Reisen im Merzli zum Reisen im PW mit Schlafen in Motels und Verpflegung in Restaurants führt uns vor Augen, wie komfortabel wir die vergangenen zwei Jahre unterwegs waren. Das gemietete Autoli ist zwar spritzig wie ein junges Rennross, aber wir sitzen quasi auf der Strasse im Vergleich zum Übersichts-Hochsitz im Cämperli. Wir haben weder ein WC noch einen Kühlschrank bei uns noch können wir an den besten Aussichtslagen frühstücken. Dafür dürfen wir uns wundern, dass der Warmwasserhahn in den Motels hie und da auch rechts liegt, ja sogar die Gewindedrehrichtung ist nicht überall gleich! Und dank Hotel und Restaurants verschwinden die Banknoten fast so schnell wie sie aus dem Bancomat herauskommen.

Was brauchen wir für die Hotelferien?
Während der zwei Wochen durchstreiften wir den äussersten Osten Kanadas. Dabei wähnten wir uns oft und in vielen Beziehungen in England, später in Frankreich.
Die kleine Provinz Nova Scotia [nouwa sgouscha] ist nur um ein Viertel grösser als die Schweiz, und hat acht Mal weniger Einwohner. Jeder vierte lebt in der Hauptstadt Halifax.
Eine knappe Fahrstunde von Halifax entfernt treffen wir auf das Denkmal des Absturzes einer Swissairmaschine 1998 (wer wusste vorher schon, wo oder was Halifax ist?).

Der Gedenkort an den Absturz der Swissairmaschine bei Halifax mit Blick auf Peggy's Cove
Das Denkmal wurde an einer wunderschönen Stelle errichtet und ist ein viel besuchter Ort. Der Blick schweift auf den kleinen Touristenort (im Prospekt: Fischerdorf) Peggy’s Cove mit dem meist fotografierten Leuchtturm Nova Scotias. Die Küste mit seltsam abgeschliffener Felslandschaft lädt zum Strielen und Klettern ein.

Der Liebling aller Kameras ist der 
Leuchtturm in Peggy's Cove


Das gefällt Lukas




















In der Fundy Bay findet der weltweit grösste Tidenhub (bis zu 16 m!) statt. Diesen für einmal wirklich erwähnenswerten Weltrekord beanspruchen mindestens ein Dutzend Gemeinden ultimativ für sich. Ich stehe an einem Schiffssteg. Weit unter mir liegen die Boote im Trockenen. Ein Fortkommen mit den Booten, ja sogar das Einsteigen ist nur bei Flut möglich. In einem Flüssli kündigt sich die Flut mit einer Welle flussaufwärts an. In 1½ Stunden steigt der Flussspiegel um mehrere Meter.

Warten auf die Flut bis ins Schiff eingestiegen 
werden kann (sie stehen auf der Rückseite)
Nicht nur wir fühlen uns hier wohl. Praktisch rund um Nova Scotia tümmeln sich mehrere Wal-Arten. Ein besonders touristenfreundliches Exemplar führt uns seine Springkünste während etwa 5 Minuten vor. Immer wieder springt es in die Höhe und klatscht dann mit dem massigen Körper und den Schwanzflossen aufs Wasser. Lukas erinnert sich schaudernd an einen seiner „Ränzler“ vom Sprungturm – dem Wal hingegen scheint das wohl zu tun und zu gefallen.

Man springe mal mit 60 Tonnen in die Höhe!
Auch im stark bevölkerten Teil Kanadas (für Schweizer: im nicht unbevölkerten Teil Kanadas) wohnen die Leute in Einfamilienhäusern. Die kellerlosen Häuser sind meist  äusserst einfach gebaut. Die Dachsparren sind wirklich nur Dachlatten, die Ziegel drei Millimeter starke Dachpappenlappen, die Fenster nur einfach verglast. Aber der riesige Rasen ist stets tadellos geschnittenen und zeugt von fleissiger Düngung. Da hocken die Männer stundenlang auf ihren Aufsitzmähern – mir kommt es so vor, als seien sie aus dem Haus respektive vor der Hausarbeit geflüchtet. Kaum ein Gräslein steht krumm. Kein Strauch, keine Blumenrabatte, kein Gartenmöbel unterbricht die Grünfläche. Während wir uns im Norden über die Schrott- und Güselhaufen in den Gärten und neben den Häusern wunderten, ist hier alles gepützelt, für unseren Geschmack gar etwas verbünzelt. Die unzähligen Golfplätze mit bis zum Abwinken gepützelten Grünflächen sind erstaunlich gut besucht.

Rasen zum Abwinken


Wir wandern und geniessen die Küsten




Fish n' Chips ist hier speziell gut...

...und wird mit heissem Appetit gegessen

















Die letzten Tage unserer Reise verbringen wir in der Provinz Québec (40fache Fläche der Schweiz, gleich viele Einwohner, ¼ lebt in Québec oder Montreal). Eine besondere Lebensader ist der St. Lorenzstrom. 90% der Einwohner der Provinz Québec wohnen in dessen Bereich! Wir überqueren ihn an einer relativ schmalen Stelle (24 km!!) mit der Fähre. 

Abendstimmung auf der Fähre über den St. Lorenzstrom
Jetzt sind wir im französisch sprechenden Gebiet. Was für ein Unterschied zum englischen Kanada! Die Vorgärten sind kleiner, dafür blumiger. Bis heute meinten wir, dass wir leidlich französisch verstehen und auch sprechen. Das Québec-Französisch unterscheidet sich für uns bis zur Unkenntlichkeit vom normalen französisch und wir müssen dauernd nachfragen, weil wir die simpelsten Sätze nicht verstehen. Es ist tröstlich für uns – allerdings auch mühsam – dass dafür unser Französisch von den Québecanern auch nicht verstanden wird.

Die Strassen in die Stadt sind verstopft, der Verkehr ist kriechend. Es wird weniger amerikanisch-freundlich gelächelt, dafür mehr europäisch gedrängelt. Am Ankunftsabend flüchten wir nach einer Stunde Stausteherei ins nächste Hotel – egal, dass es mit einigen teuren Sternen dekoriert ist. Die seit zwei Jahren stauentwöhnten Nerven lassen sich in der Bar bei einem grossen „pression“ besänftigen und der knurrende Magen im danebenliegenden Restaurant zum Schweigen bringen. 

Französisches Frühstück mit Buttertoast....


Lukas steigt ins Fasadengemälde
Anderntags schlendern wir durch die schönen Strassen und Gassen, geniessen den Ausblick auf die untere Altstadt und den St. Lorenzstrom, wo gerade zwei grosse Kreuzfahrtschiffe anlegen. Der französische Charme, das Savoir vivre erkennen wir in der Altstadt Québecs sofort. Boulevard-Beizli ersetzen die Fast Food-Tempel, wunderbare Menüauswahl, Wein und knusperiges Baguette sind unverkennbare Merkmale. Nicht allein die Quantität gibt den Ton an, auch Qualität wird zelebriert.  Québec mit dem überwältigenden französischen Charme würde einen mehrtägigen Besuch rechtfertigen.
Unsere langen Fahrten führen auch durch farbenprächtige Wälder. Die Rot-Gelb-Braun-Orange-Grüntöne präsentieren uns den Indian Summer.

Indian Summer
Montréal statten wir nur einen Blitzbesuch ab. Die riesige Stadt mit schnellem und dichtem Verkehr zeigt in kleineren Strassen, Fussgängerzonen, auf den Fressmeilen und den Ausgeh-Vierteln aber auch seine gemütlichen Seiten. Viele Strassenkünstler versuchen ihren Lebensunterhalt zu erspielen. Wir schlendern durch die Strassen und Gassen, geniessen den Blick und das Treiben am alten Hafen. Auch hier ist das Französisch gleich unverständlich wie in Quebec


Brücke über den St. Lorenz-Strom in Montreal

Auch in Montreal ist das Flanieren toll
Heute besuchen wir noch den berühmten Botanischen Garten und steigen dann abends ins Flugzeug. Nach 22 Stunden und zweimaligem Umsteigen werden wir in Hamburg landen. Ob wir dort wirklich unsere Freunde, die Amstutz', sehen werden?
Unser letzter Blog wird von den letzten Reisetagen handeln und eine statistische Zusammenfassung unseres Reislis beinhalten.


Wir freuen uns mit mehr als einem lachenden Auge auf zu Hause!

Brigitte und Lukas



Freitag, 13. September 2013

5000 km ostwärts

Calgary – Winnipeg – Thunder Bay – Highway 11 – 
Niagara Falls – Toronto – Montreal – Québec – Fredericton – Halifax

Kanada ist nach Russland das zweitgrösste Land
Beachte den Massstab!

Während knapp drei Wochen fuhren wir also ostwärts durch ganz Kanada, durch vier Zeitzonen und zwei Sprachgebiete. Jetzt können wir über Kanada so absolut fundiert berichten wie ein Japaner über Europa, der diesen Kontinent in der gleichen Zeit diagonal durchrast...
Aber einige subjektive Eindrücke vom zweitgrössten Land der Welt haben wir doch abgespeichert.
Schon an einem der ersten Tage werden wir mit drei weiteren Weltrekorden beglückt: Wir sehen die weltgrösste Dinosaurierskulptur (gemäss Reiseführer), wir gehen über die längste Fussgängerbrücke der Welt (gemäss Hinweistafel), und wir haben die scheusslichsten Donuts der Welt auf dem Esstisch (selber herausgefunden).
Weltrekord 1
Weltrekord 2



















Weltrekord 3








Zwischen dem lebendigen Calgary und dem rasend schnell wachsenden Toronto unterbrechen nur die Getreidesilo-Stadt Winnipeg und Thunder Bay die unendlichen, fast menschenleeren Ebenen. Tagelang fahren wir auf pfeifengeraden Strassen, die sich wie ein Bleistiftstrich am Horizont verlieren; durch Getreidefelder, nur durch Rapsfelder unterbrochen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Farmern in diesem mittleren Teil Kanadas interessant ist: Jeder Farmer betreibt extreme Monokultur, d.h. er sitzt jeden Tag auf der Maschine. Entweder zieht diese den Pflug, die Egge, die Sähmaschine oder die Giftspritze. Dann darf der Farmer auf den Mähdrescher wechseln. Tiere beherbergt die Farm keine. Finanziell scheint das ganze auch nicht so interessant zu sein: Die Farmhäuser sind alles andere als behäbig, und für's Wegräumen der in den letzten Jahrzehnten ausrangierten Maschinen und Autos scheint das Geld und die Zeit zu fehlen...


Während zwei Tagen fahren wir durch einen Landesteil, wo „gar nichts ist“. Einige wenige grasende Kühe sind schon bemerkenswert, die sehr bescheidenen, nicht isolierten Häuschen mögen wohl Langzeitarbeitslose beherbergen. Die Sperrgutabfuhr scheint nie vorbeizukommen.
Halt! Da waren noch die äusserst interessanten Hoo-Doos in einem Canyon
Das dunkle Band sind Kohlenflöze

Um Toronto kommen wir in eine andere Welt! Ich erinnere mich an die Aussage eines Nordamerikaners: „Wir haben alles, das Schlechteste und das Allerbeste.“ Der stockende Verkehr auf der zwölfspurigen Autobahn mitten durch dichtest besiedeltes Gebiet möchte einen glauben machen, Kanada sei massiv überbevölkert. Das freundlich-tolerante Verkehrsgebaren wechselt zum Kampf um Autolängen. Am Seeufer finden wir prächtige Flanieranlagen, trendige Cafés laden für eine Pause ein, gigantische Einkaufszentren hauen auch verwöhnte Schweizerinnen aus den Socken. Weit über ein Dutzend Wolkenkratzer sind im Bau, der Bauherr ist den Fassaden nach ganz sicher nicht das Amt für sozialen Wohnungsbau. Auch die Preise für eine Stadtrundfahrt, für die Turmbesteigung, für einen Snack sind durchaus über dem gewohnten Denken eines Schweizers.
Die Hochhäuser wachsen schneller als Gras
Nicht menschenleer wie eine normale nordamerik. Stadt
























Seit ich in der Volksschule das erste Mal über einem Atlas brütete, wollte ich die Niagarafälle sehen. Und schon immer wollte ich in einem Helikopter fliegen. Und jetzt könnte ich die Fälle mit den unermesslichen Wassermassen aus einem Heli bestaunen! Also, nichts wie los, wie heisst es in der Werbung? „Einiges kann man nicht kaufen, für alles andere gibt's die Visa-Karte“.
Winkewinke!
Der Arnold am besten Platz





























Diese Wucht! Dieses Tosen!

Zum Wassrfallkontakt bereit!





Ebenso eindrücklich wie der Panorama-Flug, wenn auch ganz anders, war die Schifffahrt ganz nahe an den Hauptfall. Welch unvergesslicher Sound, welche entfesselte Gewalt! Die tobende Gischt hatte leichtes Spiel, unsere Regenpellerinen zu überlisten. Bei der Attraktion „Sehe die Fälle von hinten!“ kam mir die oben zitierte Aussage über das Beste und Schlechteste in den Sinn: Durch jedes Felsfenster sah ich nicht mehr als das gleichmässige Grau wie durch ein starkes Milchglasfenster. Der 4D-Film über die Entstehung der Fälle hingegen zeigte, dass Kanada weiss, was Technik ist. Echtes Schneegestöber und eisige Böen fehlten so wenig wie Erdbeben.

Ein Freilichtmuseum gibt uns eine willkommene Fahrpause. Die aus der weiteren Umgebung hergeschafften Gebäude liessen uns die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts durchstreifen. Alles erscheint verblüffend echt. Der beachtliche Ranzen des Sägers passt herrlich zu seinen Sackhosen, der Bäcker trägt eine Schürze, die den heutigen Lebensmittelvorschriften ganz bestimmt nicht genügt, der Schmied dürfte gern mal einen Tag seine Werkstatt aufräumen, die ausgestopfte Lehrerin steht zu unserem Erschrecken plötzlich auf, zeigt mir ihren Tatzen-Lederriemen, referiert über feet, yard und acres und beklagt sich über ihren mickrigen Lohn. Der vollbärtige Rossknecht hat alle Zeit der Welt, um das Pferd saufen zu lassen.
Elternarbeit, Teamsitzungen, Schülermitsprache, ... Sie machte es ohne.

So oft bewahrheitet sich die zitierte Aussage, dass Kanada das Beste und Schlechteste habe. Einerseits fühlen wir uns im Land des Reichtums und der Technik, andererseits in einem Entwicklungsland. Je ein Beispiel: Ich lasse in einer Vertrauen erweckenden Pneu-Garage die Räder diagonal wechseln und auswuchten. Als ich sehe, dass der Arbeiter das Auto auf vier Schemel aufbockt, frage ich ihn, warum er nicht einen der beiden Lifte benütze. „Ja glauben Sie, einer der beiden funktioniere?“. Ich fahre aus der Werkstatt an Industriebauten vorbei, die problemlos für die Vergabe des Architektenwettbewerbes „schönster Zweckbau“ nominiert werden könnte.

In einigen Beziehungen ist Kanada einem Entwicklungsland recht ähnlich

Hier im Osten, in den Provinzen New Brunswick und Nova Scotia, kommen wir uns wie in England vor. Die Rasen vor den properen Häuschen sind kurz und gepflegt, die Städtchen mit kleinen Ladengeschäften bestückt, rabattengesäumte Gehwege und schmiedeiserne Verzierungen sind häufig. Aber wer von Portugal über Skandinavien nach Polen reist, sieht ja auch verschiedenste Bau- und Wohnstile.

Heute werden wir unser Cämperli im Hafen von Halifax auf die Heimreise schicken. Wir werden ein Mietauto übernehmen und uns noch weitere zwei Wochen in Nova Scotia und New Brunswick umschauen.

Liebe Grüsse aus dem täglich herbstlich-bunter werdenden Osten Kanadas

Lukas und Brigitte