Samstag, 30. Juni 2012

Die Mine in Potosì




4000 müM ist auch für Bolivien bemerkenswert hoch!

Stelle Dir den absolut miesesten Arbeitsplatz in der Schweiz vor. Nimm einen zwanzigstel des Lohnes, den Du dort erhalten würdest. Erhöhe die Umgebungstemperatur des Arbeitsplatzes auf 40°C. Entferne alle maschinellen Hilfsmittel. Du darfst nur in der Nacht resp. bei Kunstlicht arbeiten. Nimm der Luft einen Teil des Sauerstoffes und gib dafür nicht zu knapp giftige Gase dazu. Wirf jetzt alle Schutzvorrichtungen und Schutzkleider weg. Sei Dir bewusst, dass Du an diesem Arbeitsplatz weder auf eine Gewerkschaft zählen kannst noch auf irgend ein staatliches Gesetz.
Gelingt es, all das Dir vorzustellen? Dann bist Du reif für die Mine in Potosì.


Der Besuch dieser Mine ist für mich kein reiner Spass. Ich durchlebe alle Gefühle: Staunen, Erschrecken, Spott, Wut, Erbarmen, Hilflosigkeit, tiefe Dankbarkeit für mein Schicksal.
Das ist der Cerro Rico, der Silberberg, in dem
während der Kolonialzeit 8 Mio Indios
an den Arbeitsbedingungen starben.










Heute stirbt "nur" noch täglich ein Minenarbeiter an Unfall oder Staublunge.

Mein Führer Antonio, ein ehemaliger Minenarbeiter, holt mich beim Hotel ab. Mit Mühe kann ich erkennen, welche Sprache er nuschelt: Offenbar versucht er es mit Englisch.
Vorbei geht es an vielen kleinen Läden, die Bergmanns-Bedarf verkaufen: Pickel, Stiefel, Lampen, Brecheisen, Säcke, Winden, ... Später erfahre ich, dass die Bergleute alles selber stellen müssen, sie erhalten gar nichts, auch nicht Schutzkleidung, zur Verfügung gestellt.
Wir halten vor einem Stand mit Gegenständen des täglichen Bedarfs: Coca-Blätter, selbstgedrehte haschähnliche Zigaretten, 96%iger Trinkalkohol, Dynamit mit Zünder und Zündschnur, Süsswässerli. Auf Geheiss Antonios decke ich mich mit solchen Dingen zwecks Geschenk an die Minenarbeiter ein.




































Jeder Minenarbeiter hat eine von Cocablättern ausgebuchtete Wange. Antonio versicherte mir, das Coca binde einen Teil des schädlichen Staubes.

In Potosì kann jeder - Frau, Mann, In- oder Ausländer, Kind oder Erwachsener - völlig legal und in beliebiger Menge, Dynamit + Zündschnüre kaufen.
Antonio geht mir voraus zu einem Umkleideraum. Die 4200 müM lassen mich keuchen wie eine Dampflokomotive. Kann man in dieser Höhe überhaupt körperlich arbeiten? Sicherheitshalber stopfe auch ich mir eine Backentasche voll mit Cocablättern und gebe ein Stück "Katalysator", ein Gemisch aus Kartoffelpulver, Zucker und Geheimnis, dazu.
Kurz nach dem Stolleneingang treffen wir in einem kleinen Seitenstollen auf Tìo: Eine lebensgrosse sitzende Lehmfigur mit Hörnern und einem erigierten Penis. Antonio erklärt mir, dass er gläubiger und praktizierender Katholik sei, aber in der Mine glaube er an Tìo, hier entscheide er über Leben und Tod, ihn gelte es unbedingt bei Laune zu halten. Der Ex-Minero verfällt in ein Gebet, dann streut er Cocabläter über beide Hände, beide Stiefel und den Penis, begiesst vor allem diesen mit dem 96er Schnaps und heisst mich, ihm gleichzutun. Dann legen wir ihm je eine superstarke brennende Zigarette, Grösse XXL, in die rechte Hand und in den Mund.





Mindestens jeden Freitag muss dem Tìo gehuldigt werden: Beten. Cocablätter streuen, Zigarette anzünden, zusammen mit ihm trinken.





Die Stollen sind grauenhaft: Auch für die kleinen Bolivianer viel zu niedrig zum Aufrecht gehen, Asbestblumen an den Wänden, gesprungene Schienen für die Loren am Boden, Kabel mit zum Teil blanken Stellen zielen auf Deine Augen, plötzlich ein viele Meter tiefes Loch (= abfallender Nebenstollen), Wasser knöcheltief, keine Beleuchtung.
Gearbeitet wir praktisch ausschliesslich von Hand: In verbeulten Kübeln wird mit einem Seil das Gestein heraufgezogen, in Kartoffelsäcken zur Lore getragen, diese gebückt weggestossen. Warum keine Presslufthämmer? a) Woher nehmen? b) womit bezahlen? c) die Erschütterungen könnten den Schacht einstürzen lassen.



































Nur bei ergiebigen Adern lohne es sich, eine Steinrutsche zu bauen.






















Zurück bei Tìo - wir wollen ihm für den unfallfreien Rundgang danken - kommt Antonio in Fahrt. Ohne die Stimme zu erheben, aber mit viel Emotionen prangt er den rechtsftreien Raum der Mine an. Er begann damals als 14jähriger in der Mine zu arbeiten, weil er das fehlende Einkommen des an Staublunge gestorbenen Vaters ersetzen musste. Die Cooperativos (8 - 20 Arbeiter) seien ein Betrug, sie seien geschaffen worden, um die Minenarbeiter noch mehr auszubeuten: Restlos alles Werkzeug muss die Cooperative selber stellen, b
ezahlt wird nach Gewicht des ausgebeuteten Metalls (nicht des Gesteins!) und dieser Preis sei wiederum abhängig vom Weltmarktpreis. So falle jegliches Risiko auf den Mineur. Um die Sicherheit kümmere sich gar niemand, nach durchschnittlich 10 Jahren erkranke oder verunfalle der Mineur. Die Struktur sei so gewählt, dass sich die Cooperativos gegenseitig konkurrenzieren und somit bekriegen. Das beuge Streiks vor.
Ich frage den geschätzt 45 jährigen, leicht hinkenden, sehr buckligen Antonio nach seinem Alter: Er sei jetzt 29 und der Entschluss, nicht mehr im Cerro Rico zu arbeiten, sei der beste Entschluss in seinem Leben gewesen. Er gehe jetzt in eine staatliche Schule, um etwas anderes zu lernen. Allerdings wisse er nich, wo arbeiten: Die Regierung unterlasse in Potosì ganz bewusst jegliche Ansiedlung einer anderen Industrie.
Denke ich an die Antonios, wenn ich billige Zink-Batterien kaufe? Und geht es den Antonios besser, wenn ich die teurere Sorte kaufe? Irgendwo las ich den Satz "Die Kapitalisten und Börsianer sterben nicht an Staublunge, im Gegenteil, sie leben von ihr".
Ich beruhige mein Gewissen ein kleines bisschen, indem ich Antonio ein Nötchen gebe, das nicht ein Trinkgeld, sondern ein Geschenk ist.

Tagebucheintrag vom 26. Juni 2012
Der Flug von Sucre nach El Alto/La Paz ist familiär: Wir sind zu fünft in einem Propellerflugzeug, das nur Fensterplätze hat. Dafür fehlt ein WC. Der Morgen ist klar, die Luft knochentrocken, ich kann also jedes Detail in den Bergbauerndörfern sehen.
Ich habe die Flüge für meinen Kurzbesuch in der Schweiz so gebucht, dass ich einige Stunden in La Paz sein kann. Wenn ich auch in dieser Zeit die Stadt nicht kennenlernen kann, so habe ich doch die Möglichkeit für eine Blitzlichtaufnahme, für einen ersten Eindruck.
Die Strassen in El Alto sind komplett verstopft. Dort und auf der Schnellstrasse nach La Paz zeigt mein Taxichauffeur, dass er ein echter Krieger ist. Er kämpft kompromisslos und hart um jeden Zentimeter – und gewinnt oft. Autofahren in Bolivien muss weniger gefährlich sein als bei uns: Auf der Schnellstrasse fährt er bei 90 km/h auf eine halbe Autolänge aufs Vorderfahrzeug auf und stellt dann eine Telefonnummer auf seinem Handy ein.
In La Paz finden zufällig heute drei Grossanlässe gleichzeitig mit entsprechend lebhaftem Betrieb statt: Heute muss das nationale Hupfest gleichzeitig mit dem Kongress der Blinden und dem grossen Zusammenkommen aller Marktfahrenden Boliviens sein. Das zeigt sich so: Alle Autos und Collectivos hupen ununterbrochen, in allen Tonlagen, in allen Variationen. Aber die Hauptvorführung scheint erst später zu sein, das Gehupe ist noch so unkoordiniert wie die Töne einer Blechmusik, wenn sich die Bläser vor dem Konzert warm spielen.
Für die offenbar vielen Blinden geben sich die Bolivianos alle Mühe: jeder Taxifahrer schreit aus seinem angeschriebenen Auto ununterbrochen „TaxiTaxiTaxi!“, ein Mann, der mit mehreren Kilos Sicherheitsnadeln behangen ist, schreit ohne Atempause das gleiche Wort (ich nehme an, „Sicherheitsnadeln!“), der Herr über mehrere Quadratmeter Tischfläche voller Malenschlösser lotst die des Sehens nicht Mächtigen stimmgewaltig zu sich usw.
Zusammenkunft der Marktfahrenden: Jede von mir erklommene oder hinuntergestiegene Strasse ist mehr oder weniger lückenlos und beidseitig mit Marktständen belegt: 100 m Nägel, dann 150 m Sandalen, 60 m Pfannen, 10 Minuten Jeans, ... Und auf der Strasse, zwischen den Collectivos, schreien Honigverkäufer, Anbieter von Salatsieben oder von Keilriemenverkäufer um die Gunst der Blinden. Wahrscheinlich ist es eine internationale Zusammenkunft, ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass Bolivien allein so viele Marktfahrer hat!
Neben einer sehr kleinen und extrem breiten Marktfrau (nur füllig oder unzählige Röcke und Schürzen?) lasse ich mich auf ein Schemeli auf dem Trottoir nieder und bitte um ein Mittagessen. Schon halte ich einen Teller Suppe mit einer ganzen Hühnerkralle auf den Knien. Nach Huhn, Kartoffeln und Reis reicht sie mir einige Blätter von der WC-Papierrolle (zur Mund- und Fingerreinigung).
Wenn ich mir das zweite Mal in meinem Leben die Schuhe reinigen lassen werde, muss ich besser aufpassen: Wenn mir der Schuhputzer auf die Sohle tippt, werde ich den Fuss wechseln, bevor er mich fassungslos-entsetzt wegen meines Nichtreagierens anschaut.
Der Taxista, der mich zum Flughafen zurückbrachte, hatte Glück: Weil eine Gruppe Leute umwelt-ungerecht zwei Dutzend Pneus mitten auf der Strasse entsorgte – anzündeten! - endete dort unser Auftragsverhältnis und wegen höherer Gewalt ohne Preisnachlass. Ich musste die Strassenblockade zu Fuss passieren und auf der anderen Seite mich einem Wucherer ausliefern – auch er nutzte die Gunst der Stunde – nämlich die kleine Anzahl Taxis auf dieser Seite.
Wenn ich noch besser spanisch verstehe, werde ich eine Indio fragen, wie ihr Zylinderchen auf dem Kopf hält. Es sieht aus wie von einem Kindergärtler gezeichnet: Ganz zuoberst auf dem Kopf ist der Hut leicht schräg hingestellt. Entgegen den physikalischen Gesetzen fällt er aber nicht herunter.


Liebe Grüsse vom Kurztripp in die Schweiz
                                        Lukas

Freitag, 22. Juni 2012

Altiplano


Cochabamba-Uyuni-Lagunen-Uyuni-Potosi-Sucre
























Cochabamba zeigt sich als lebhafte Stadt mit Marktständen beidseits der Strasse bis (fast) zur Strassenmitte, so dass das Durchkommen Geduld und Nerven, aber keinen Autolack kostet.
Wir können unser Fahrzeug auf dem Hof vom Hotel Casa Campestre abstellen. Das ist gut so, denn alsbald liegen wir flach: Pfnüsel, Durchfall der Extraklasse, Halsweh und grosse Müdigkeit überfallen uns hinterrücks. Wir loben den ruhigen Hinterhof, die warme Dusche, die Möglichkeit, die Spuren der Magen-Darm-Unpässlichkeit zu waschen... Vom mitbezahlten Frühstücksbüffet bekommen wir wenig mit – der Magen fordert imperativ nach Ruhe. Nach vier Tagen sind wir wieder soweit hergestellt, dass wir den Ausflug zur Gasabfüllstation wagen können. Das Gasvokabular ist uns vom letzten Mal noch geläufig. Nach der Stadtdurchquerung schickt uns die erste Anlaufstelle an eine andere, 30 km entfernte Station. Jänu – was machen wir nicht alles, um Gas zu bekommen. Wir sind noch nicht so in Not wie unsere Franzosenfreunde, die keinen Tropfen mehr haben und seit Wochen erfolglos nach Gas lechzen und betteln. Wo bleibt die Globalisierung bei den Gasanschlüssen? Unsere Flasche wird aufgefüllt, und zwar g r a t u i t o ! Die Flaschen der Franzosen (Campinggas, EU) können nicht aufgefüllt werden. Sie müssen in den sauren, kalten Apfel beissen und ohne Gas weiterfahren. Wir verabschieden uns von ihnen – bien sûr, on se verra en France!






Wir haben es eilig, aufs Altiplano zu kommen und schauen uns deshalb Cochabamba nicht mehr genauer an. Von 2700 auf über 4000 m zu fahren ist ein Erlebnis. Die lange Steigung, d.h. die langsame Fahrt der Autos machen sich die Hunde zu Nutze: Zu Hauf liegen sie auf Futter wartend am Strassenrand – mit treuherzigen Blicken, und mit verschränkten Pfoten hoffen sie auf barmherzige Spenderherzen. Jedes zweite Hundeli würde ich am liebsten mit ins Auto nehmen – sie sind wunderschön! Weil sie so liebevoll betteln können, sind sie nicht abgemagert.
Oben auf dem Altiplano schlägt sie unbarmherzig zu, die Kälte! Obwohl wir raffiniert windgeschützt hinter einem Haus stehen, messen wir um 7 Uhr früh -6° draussen und drinnen 1°. Das Aussuchen der heutigen Garderobe fällt sehr sehr kurz aus. Schnell in die Kleider springen und losfahren, damit das Auto sich und uns aufwärmen kann. (Für Interessierte: Die teure Truma-Dieselheizung funktioniert bis 1500 m, mit dem Höhenzusatz bis 2500 m, darüber würde sie nach kurzem heftigem Rauchen wegen Sauerstoffmangel sterben).



Vor uns liegt das Altiplano mit seiner Weite, begrenzt in der Ferne durch die Fünf- und Sechstausender. Lamas, salzhaltige Lagunen mit Flamingos, Esel und – wenn auch wenige – Kühe bereichern die Zone. Die Äcker werden kaum mit Maschinen bewirtschaftet – fleckenweise werden sie sorgfältigst mit der kurzstieligen Hacke bearbeitet. Das wichtigste Produkt ist Quinoa, eine Hirseart, etwa vergleichbar mit Cuscus. Sie schmeckt kalt als Salat und warm als Beilage wunderbar.
Vor dem Salar de Uyuni verbringen wir die kältemässig grausamste Nacht. Der Rundumblick ist teuer bezahlt: -3.5° wecken uns am Morgen; draussen knochentrockene -14°! Man kann sich ja vorstellen, wie schnell wir angezogen sind und wie wir uns auf den am Abend in die Thermosflasche gefüllten Tee (danke Christian für die Flasche!) stürzen. Das Altiplano ist dünn besiedelt. Umso selbstverständlicher ist es, dass man einander hilft. Da versucht einer ein Rad zu wechseln – ohne Wagenheber eher schwierig ..., der nächste will mitfahren, weil seine Pleuelstange ausgeleiert ist und er in Uyuni eine neue kaufen will. Aber wir Fotoapparat-Touristen sind ihm zu langsam – er wartet auf die nächste Gelegenheit. Bald steht der nächste am Wegrand: Ein Professore, der nach Uyuni mitfahren will, weil sein Auto defekt ist. Er ist ein interessanter Fahrgast, der uns einiges über das Leben im Altiplano erzählen kann. Vor Uyuni verabschieden wir uns von ihm, weil wir jetzt auf den Salar fahren wollen. Wir sind gespannt auf diesen nächsten Höhepunkt der Reise. Vor dem Salar fahren wir am ersten Salzhotel vorbei, also ein Haus, dessen Mauern, Böden, Möbel, ... nur aus Salz gebaut sind.



Der Respekt vor der Kälte in der Nacht und das wunderbare Ambiente des Salzhotel verleiten uns zur Buchung einer Nacht. Man verspricht uns geheizte Räume; aber das Nachtessen nehmen wir eingehüllt in die Winterjacke ein (die bolivianischen Tischnachbarn waren noch zusätzlich in Kappe, Halstuch und Handschuhe eingemummt), das Zimmer hatte am Morgen Eisblumen an den Fenstern, aber das Bett war himmlisch warm.
Somit können wir erholt den neuen Tag beginnen. Zuerst steuern wir das erste, heute nicht mehr betriebene Salzhotel auf dem Salar an. Das Hotel hat schon viele Jahre auf dem Buckel und war einst bestimmt sensationell (immer dem bolivianischen Standard entsprechend) – heute dient es als Museum und als Orientierungspunkt auf dem Salar. Eine riesige weisse Fläche – so gross wie 1/4 der Schweiz - zeigt, wie klein unser Auto und wir sind.

Unser Navigationsgerät will keine Koordinaten erkennen. So hoffen wir, die Isla Incahuasi den Spuren folgend zu finden. Aber davon gibt es viele! Schon beim ersten Anlauf merken wir, dass diese Spuren uns auch falsch leiten können. Nebel auf dem Salar muss ein Alptraum sein. Incahuasi ist eine Insel inmitten des Salars, die mit bis zu 12 m hohen und über 1000 Jahre alten Kakteen bewachsen ist, bewohnt von Vögeln und Viscachas (= Hasenmäuse). Zuoberst gehört ein kleiner Teil der Schweiz – warum sonst hat es eine Tafel, die an den 1. August erinnert?







Vergnügt bummeln wir zwischen den Kakteen herum, bewundern die unendliche Weite und haben den Überblick über die gefährlichen „Ojos“ = Öffnungen, die je nach Saison trockener oder wässeriger sein können und schon manchem Autofahrer das Herausschleppen erleben liessen. Wir sind zur Trockenzeit hier und müssen das kaum befürchten.
Eine weitere kalte Nacht verbringen wir auf dem Salar – wir haben jetzt Übung im Frühinsbettgehen, warm Einpacken, lange Liegen und Hörbuch geniessen. Eine Bettflasche hilft die bereits um 19 Uhr kalten Füsse aufzuwärmen.

Selbstverständlich müssen wir dem Merzli anderntags eine ausgiebige Reinigung vom Salz gönnen. Dabei lernen wir einen Touristenführer kennen, und bereits nach einer Viertelstunde wissen wir, dass wir anderntags mit ihm und seinem Toyota Landcruiser auf die zweitägige Lagunentour gehen werden. Unserem Merzli wollen wir diese Tortour nicht antun und lassen es gut gesichert in Uyuni stehen.



Lagunentour
Auf den ersten paar Dutzend Kilometern meinen wir, diese Tour hätte auch unser Auto gut gemeistert. Aber dann zeigt sich, dass unsere Entscheidung weise war: Auf sandiger, wellblechiger und von Tourenautos malträtierter Piste geht es im kaum besiedelten Gebiet zu den Lagunen. Diese bezaubern mit den je nach Gehalt der Mineralstoffe, der Einstrahlung der Sonne und der Tageszeit verschiedenen Farben. Flamingos stochern mit ihren Schnäbeln in den Algen, elegant stolzierend auf ihren Steckenbeinen.
Andere Lagunen sind so arm an Nährstoffen, dass keine Tiere zu beobachten sind. Dafür wirken die weissen Boraxränder bezaubernd. Alle Salzseen liegen um oder gar über 4000m. Höhepunkt ist die Laguna Colorada: In allen Farben präsentiert sie sich mit einem enormen Bestand an verschiedenen Flamingoarten. Kupferhaltige Mineralien, das Algengrün, die Boraxinseln ergeben zusammen mit dem Blau des Himmels eine einmalige Szenerie.








Wir schlafen auf 4300m – unser Doppelbett besteht aus einem Betonblock mit einer Matratze darauf. Die Toiletten befinden sich ziemlich weit weg, das Licht stirbt um 21 Uhr – und die Schweizer haben die Stirnlampe nicht


dabei! Gut, dass ich mich beim Trinken einschränkte! Auch hier wird inWintermontour das Nachtessen eingenommen und weil’s so arschkalt ist, muss man schon vor 20 Uhr ins Bett – um 05:30 müssen wir ja bereits wieder stramm stehen.
Auch am frühen Morgen gibt es kein Licht. Mit Tasten finden wir Unterhosen und Pullover, können alles in die Tasche stopfen und schnell ins kalte Auto hüpfen. Auf 4900 m liegen die Geysire mit dem wunderschönen Namen Sol de Mañana. Es dampft und pfeifft aus allen Löchern – der Gestank verrät, dass wir wirklich bei Geysiren sind.
Es ist noch dunkel, der Wind ist hellwach (4900m!): zum Verbleiben gelüstet es niemanden. Wir sind erstaunt, wieviele Touristenautos (oftmals zu siebt plus Chauffeur in einem Toyota Landcruiser!) unterwegs sind. Wir geniessen die Fahrt in den erwachenden Tag, langsam die Konturen der Berge erkennend und schlussendlich bei kräftigem Sonnenschein bei den Termas de Chalviri anzukommen. Was für ein Genuss, den Morgen in einem knapp 40° warmen Teich fortzusetzen! Die Laguna Verde – bewacht durch den Vulkan Licancabur zeigt sich am Vormittag nicht in der Farbenpracht, wie sie um die Mittagszeit zu sein verspricht. Erst wenn die Sonneneinstrahlung einen gewissen Winkel hat, kommt das mit Blei, Kalzium und Schwefel verbundene Plankton schimmernd grün zu Geltung. So ist es, wenn man mit einer Tour unterwegs ist: ein beliebig langes Verweilen gibt es nicht – die Zeit drängt; der Führer will ja um 17 Uhr wieder in Uyuni sein.





Dort packen wir das Auto und fahren noch ein Stück Richtung Potosi. 20 km Baupiste sind das letzte noch nicht alsfaltierte Stück auf dieser Strecke.
Auf eine nochmals kalte Nacht folgt ein Morgen, der einfach nicht warm werden will. Das Thermometer bleibt bei -8°, obwohl die Sonne schon recht hoch steht. Erst um 11 Uhr sind die Temperaturen so, dass Mann ans Wandern denken kann. Ein Hügel fordert Lukas heraus. Dieser ist aber höher und steiler als auf den ersten Blick angenommen. Nach 2/3 kehrt Lukas zurück, zufrieden, sich wieder einmal so richtig bewegt zu haben, und dank den knapp 4000 müM keucht er noch lange.
Über viele Hügel, Kurven, Schluchten erreichen wir das auf über 4000 m hoch liegende Potosì. Wo können wir unseren Merzli in den engen Gassen stehen lassen? Die rechtwinkligen Einbahngassen lassen jeden Autofahrer und vor allem die Microbusse – keiner will bei den Kreuzungen abbremsen - dauernd hupen. Wir werden unangenehm von hinten gehetzt, so schnell wie möglich eine Entscheidung unserer Weiterfahrt zu treffen. Alle Hotels, die wir anfahren, verfügen nicht über einen Platz fürs Merzli. Die Gassen sind viel zu schmal, um ein Auto parkieren zu lassen. Im Vielstern-Hotel gibt es eine halbe Möglichkeit: tasüber parkt das Auto vor dem Eingang auf dem Trottoir (ein Auto mehr, wegen dem die vielen Fussgänger auf die Strasse ausweichen müssen), nachts können wir auf der abschliessbaren Garageabfahrt stehen – die Garage selbst ist zu niedrig. Bedingung: Wir schlafen im Hotel und lassen den Luxus über uns ergehen!
Eine Stadtführung zu Fuss mit einer jungen, sozialistisch eingestellten Frau führt uns den damaligen Reichtum der Europäer vor Augen. Da haben die katholische Kirche und verschiedene europäische Staaten arg gewütet: Indigene mussten in den Minen arbeiten, schwarze Sklaven beim Bau der Patrizierhäuser und monumentalen Kirchen schuften. Sowohl Indigene wie auch die schwarzen Sklaven bezahlten die Schufterei nach wenigen Jahren mit ihrem Leben. Das ist ein rabenschwarzes Kapitel der Kolonialgeschichte. Der Silberberg wurde komplett ausgeplündert, ohne dass Bolivien einen Profit davon hatte. Heute wird vor allem Zink und Zinn abgebaut, welches in wenigen Jahren ebenfalls ausgegangen sein wird.
Wir bestaunen die wunderbaren Tore mit den in Stein gemeisselten Verzierungen und Familienwappen. Die Eingänge der Kirchen sind so reich und üppig verziert, dass ich nicht umhin komme, einen Groll der damaligen katholischen Kirche gegenüber zu hegen – hatten doch die Arbeiter damals kaum eine Hütte zum Wohnen, mussten in der klirrenden Kälte ohne Heiz- und Brennstoff auskommen, hatten keine ausreichende Nahrung.. Damals gab's weder Kran noch Lift: Jeder Stein musste mühsamst über Leitern nach oben geschleppt werden – was für ein Unsinn, so den Glauben verbreiten zu wollen!
Diese Stadt berührt und geht unter die Haut. Lukas besucht anderntags die Minen – vielleicht berichtet er das nächste Mal davon.
Nach zwei Nächten im Hotel freuen wir uns gewaltig aufs Übernachten im Merzli. Wir ersehnen den Abstieg nach Sucre, wo wir uns auf mickrigen 2800m bestimmt wohler fühlen werden. Die Strassen, respektive das Gelände Boliviens bieten ein stetes Rauf und Runter. Steil ist es allerdings nie – die alten Lastwagen können gar keine steilen Strecken fahren: zu schwache Motoren, zu schwache Bremsen!
Und wie verhielt sich unser elektronikgespicktes Auto auf der Höhe? Wir waren sehr vorsichtig beim Tanken (Dieselqualität) und fuhren immer recht hochtourig. Ausser dem dauernden Warnblinken „sofort Fachwerkstatt aufsuchen“ ist alles tadellos. Und wir tun einfach so, als hätten wir diese Warnung nicht gesehen...
In Boliviens Hauptstadt Sucre finden wir einen wunderschönen Standplatz. Da werden wir eine längere Zeit bleiben. Lukas wird nächste Woche für wenige Tage in die Schweiz fliegen, um dringende Angelegenheiten zu erledigen - leider nicht, um Leute zu besuchen. Ich werde in dieser Zeit Spanischkurse besuchen und das lebendige Sucre geniessen.

Wir grüssen herzlich

Brigitte und Lukas

Mittwoch, 6. Juni 2012

Von Brasilien nach Bolivien




Miranda - Corumba - Grenzübertritt Bolivien - Sta Cruz - Cochabamba







Ja, die zweitägige geführte Tour durchs Pantanal hat sich gelohnt. Zwar war es an beiden Tagen durchgehend bewölkt, was die Fotoqualität deutlich beeinträchtigt, dafür die Mückenquantität erhöht. Der Regen aber wartete glücklicherweise bis zum dritten Tag, dann allerdings holte er das Versäumte mehrfach auf!


Das Pantanal ist das weltgrösste Sumpfgebiet und somit Tummelplatz für allerlei Getier. Am häufigsten sind die Mücken, gefolgt von den Fliegen und Ameisen. Diese drei allgegenwärtigen Viecher helfen aber den ebenfalls zahlreichen Vögeln zu vollen Bäuchlein. Die Tümpelränder gleichen einer schweizerischen Badi an einem Sommersonntag. Allerdings liegen statt sonnenhungrigen Leuten wärmehungrige Kaimane am Wasserrand.








Zu Fuss, vom Boot und vom Pferd aus – jawohl, ich klettere erstmals seit 15 Jahren wieder auf ein solches Transportmittel! – sehen wir dazu noch einen Hirsch und einen Ameisenbär, Wasserschweine, Affen, Otter, aberdutzende von Störchen, und vor allem herrlich verknorzte Bäume. Das gutmütige Pferd gehorcht mir, als wären wir seit Jahren ein Team. Es ist sich nicht zu schade, mich auch durch Sumpf zu tragen, durch mannshohes Gras zu traben, und dass mich niemand Gaucho Lukas nennt, ist bestimmt nur meinem ungauchomässigem Helm zuzuschreiben.


















In Corumba an der bolivianischen Grenze müssen wir die Weiche stellen: Wollen wir auf Flüssen und über „naturbelassenen“ Pisten während Wochen via Manàus am Amazonas nach Venezuela oder westwärts nach Bolivien und Peru? Während Wochen feuchte Luft kauen und uns plagen lassen von Ameisen, die sich vorzugsweise Brigitte widmen, und von Mücken, die sich vorzugsweise anmeinem Blut laben? Da es im Amazonasgebiet lange nicht überall elektrisches Licht gibt, könnte ich abends nicht einmal Frieden mit ihnen schliessen, weil ich ihnen nicht genüsslich beim Selbstmord an den nackten Glühbirnen zuschaue könnte. Also: Bolivien, wir kommen!





Der Polizeibeamte, ein kleiner Mann mit würfelförmigem Kopf und tief zerklüftetem Gesicht, fertigt uns rasch ab und sagt mit freundlicher und nasser Aussprache, dass heute die Einreise nicht möglich ist, weil die Zollbeamten streiken. Aber mañana...
Mañana können wir nachvollziehen, warum die Grenzpolizei streikt. Die Abfertigung ist absolut chaotisch. Keine der Zollbaracken ist angeschrieben, man muss sich durchfragen. Dort, wo viele Leute stehen, hats auf Bauchnabelhöhe einen Schlitz in der Wand. Hinter dem Schlitz sitzt ein Beamter, der offenbar den Herzinfarkt fürchtet wie der Teufel das Weihwasser und es sichtlich geniesst, wenn man sich vor ihm tief bücken muss, um etwas von ihm durch den Schlitz zu erhaschen und von seinem Genuschel zu verstehen. Während des Anstehens erfahren wir, was für Papiere es braucht und wovon wir auch Fotokopien vorweisen müssen. Logisch, dass dann doch noch eine Kopie fehlt, aber man hat ja Zeit, um auf der andern Strassenseite eine solche zu erwerben und sich wieder zum Schlitzmenschen durchzukämpfen.
Nach der Privataudienz auf der Beamtenseite der schlitzbestückten Mauer sind wir mit genügend Stempeln ausgerüstet, um den Polizeiposten in der Stadt für die „Strassenbenützungsbewilligung“ suchen zu dürfen. Der Polizeibeamte, der bis anhin nur halblaut und ohne jegliche Emotion gesprochen hat, würde bestimmt wiehern vor Lachen, wenn ich ihn um ein Plänchen vom Weg fragen würde oder nach der Existenz von Wegweisern. Der zackige Benützungsbewilligungspolizist hinter seinem um eine Stufe erhöhten Pult und vor allem sein Gehilfe mit dem enormem Pommes-Frites-Bauch entschädigen uns für die Mühe.
Vom langen Weg nach Santa Cruz greife ich zwei Dinge heraus: Wir verbringen die erste Nacht auf einem Platz an einem See mit 37(siebenunddreissig)-grädigem Wasser. H.E.R.R.L.I.C.H. Der Platz hat kalte Duschen und Licht, die Schalter wahrscheinlich nicht SEV-geprüft.























Die Strasse wurde und wird neu gebaut, deshalb wird an der alten Strasse gar nichts mehr geflickt, nada, null. Hat zur Folge, dass es der schlechteste Abschnitt einer offiziellen Strasse ist, den wir je befahren haben.





Per e-Mail vereinbarten wir mit dem Franzosenpaar, das wir bei der Schifffahrt kennengelernt hatten, uns in der Millionenstadt Santa Cruz zu treffen. Der im Reiseführer gelobte Platz des bolivianischen Automobilclubs scheint geeignet. Der Führer ist drei Jahre alt, besagter Platz verlassen und vergammelt, die Franzosen im natel- und e-mailfreien Outback. Aber irgendwie klappt alles, wir treffen uns am Flughafen im gekühlten Restaurant. Von Spanisch auf Französisch umschalden ist nadürlich üperhaubt käin Broblem...
Die „Lomas de Arena“, nicht weit von der hektischen Grossstadt entfernt, sind ein Stück Saharadünen in Südamerika. Da nur 400 Personen pro Jahr dieses Naturschauspiel besuchen, wollen wir dorthin dem Lärm entfliehen. Die Anfahrt über verkehrsgepeitschte Ausfallstrassen und durch Favelas (danke, liebes GPS!) lohnt sich, auch wenn unser Auto 200 Meter vor dem Parkeingang in einem der vielen Schlammlöcher einfach absäuft und an die Leine genommen werden muss.



Bis zu 60 m türmen sich die weissen, feinkörnigen Sanddünen in den Himmel. Fotomotive ohne Ende: im Sand ertrinkende Bäume, kleine Lagunen, weidende Pferde in der Pampa, ... .
Nur: Nachdem wir uns installiert haben, beginnt es zu regnen. Nicht zu knapp und nicht zu kurz. Anderntags sind die Sandpisten mit Wasser bedeckt, aber der Regen macht Pause. Wir geniessen eine ausgedehnte Wanderung barfuss über die verschiedenen Dünen und lassen die Fotoapparate arbeiten.


Am Nachmittag müssen wir uns entscheiden: Wollen wir die Rückfahrt durch ein paar Kilometer grenzwertige Sand-Wasser-Pisten wagen oder allenfalls über Tage im Park eingeschlossen bleiben, weil der Himmel mit einer weiteren Portion droht? Brigitte und ich rekognoszieren zu Fuss den ersten Kilometer mit dem Resultat: Vamos, wer wagt, gewinnt!
Die ersten drei Kilometer legen wir erstaunlich problemlos zurück. Dann sackt der Landrover einfach in einen metertiefen Graben ab, dessen Tiefe wegen des durchfliessenden Wassers nicht voraussehbar war. Das Auto sieht aus, wie ungespitzt in den Boden gerammt. Dank der Bodenplatte vorn am Auto kann es sich selbst befreien.

Kurz darauf stehen wir vor einem Bach, der diesen Namen durchaus verdient. Erste Reaktion: Keine Durchquerungs-Chance, wir müssen warten, eventuell mehrere Tage. Zweite Reaktion: Man könnte ja zu Fuss mal vorsichtig sondieren... Dort, wo der Bach am wenigsten tief ist, gibt es aber keine Ausfahrt. Aber man könnte im Bach abdrehen. Aber wenn das Auto steckenbleibt, wird der schlammige Sand unter den Rädern sehr schnell weggespült, das Auto sinkt bis aufs Chassis ein... Entschluss: Siehe Filmli.

Schon während des Eindunkelns beginnt es wieder tropisch zu regnen, der Bach steigt unaufhörlich! Auch auf dem restlichen Weg aus dem Park muss unser Merzli zeigen, dass es mehr kann, als Diesel schlürfen. Es regnet so ausgiebig, dass auch Strassen in der Stadt überspült sind.





Über Samaipata fahren wir Richtung Cochabamba. Jetzt sind wir in Bolivien, wie wir es uns vorstellen: Naturstrassen, immer kurvenreich und auf und ab auf einer Höhe zwischen 2600 und 3300 müM, am Tag warm, nachts kalt, die Buschsavanne wie ein Flickenteppich übersät mit sorgfältigst gepflegten Äckern, die Dörfer sehr einfach, aber ohne schmerzende Armut, die indigenen Leute in den typischen bunten Kleidern – und die Männer stets mit einem gewaltigen Schigg in einer Backentasche.



















Wir freuen uns auf das „Grosse Altiplano“, das Merzli und sein Partikelfilter hoffentlich auch.

Liebe Grüsse von den zwei glücklichen Reisefüdlis
Lukas und Brigitte