Montag, 23. April 2012

Im Norden Argentiniens

Salta - Resistencia - Posadas - Esteros del Ibera-Colonia Carlos Pellegrini


Bevor wir in die grosse Stadt Salta fahren, queren wir einen Kakteenwald, einen Pass und ein Tal. Die klimatischen Verhältnisse ändern sich schnell und dramatisch. Im Kakteenwald ist es heiss,  trocken, windig.


Von weitem sehen wir rasch anschwellende Wolken über dem angepeilten Pass (3400m). Und auf dem Pass können wir gerade noch knapp die Strassenführung erkennen – so schwarz und schwer hangen die Wolken (wer mich kennt, weiss, was für mich drohende Gewitter bedeuten). Die Weltuntergangsstimmung ist dann für mich schlicht unerträglich. Lukas spürt nicht mal ein Unwohlsein, fährt unbeirrt über die Passhöhe und die streng abfallende Strasse weiter, die wir gerade noch knapp ausmachen können.

 Wie Herbst in unseren Alpen
500 m tiefer bessert's. Zwischen den Nebelschwaden erkennen wir sattgrüne Berghänge, die sich in engen Serpentinen windende Strasse und wir queren viele Bäche. Bei der ersten Häusern – es sind ein Kirchlein und eine Schule – nehmen wir eine junge Frau ins Auto. Sie erklärt, dass sie täglich das Schulhaus reinigt.  Der Arbeitsweg beträgt etwa 5 km! Ein Velo vermag sie nicht.

Der nächste Morgen zeigt sich wesentlich freundlicher. Wir fahren nochmals 10 km den Pass hinauf, haben nun Aussicht und können Euch deshalb die Eindrücke in Bildern schicken.

Macht doch gleich einen anderen Eindruck!
Salta – La Linda – ist, was Ambiente und Reste der Kolonialbauten betrifft, wirklich ganz nett. Protzig im Zentrum stehen der Dom und die San Francisco-Kirche im goldenen Barockstil. In der Fussgängerzone reihen sich Schuhgeschäfte an Kleidergeschäfte – wie’s eben offenbar sein muss in grösseren Städten. Dafür wartet der grosse Platz mit viel Action auf: Schüler- und Arbeiterdemos mit viel Radau, grosse Bäume, viele Bänklein und reihum Strassenkafis.
Könnte in Spanien sein - ist aber in Salta
         Der Turm des Domes















Alles schön und gut – wir suchen aber die Mercedes-Garage, um unserem Merzli einige fachmännische Streicheleinheiten zu gewähren. Wir werden von einem Jefe begrüsst – allerdings nicht, bevor wir durch einen Sicherheitsmann gecheckt und angemeldet wurden. Wir stehen Mister Bean gegenüber – ginge es uns nicht um etwas Wichtiges, hätten wir uns totgelacht. Jede Geste und der Sound der Sprache stimmen haargenau und er benimmt sich auch mindestens so überheblich wie Mr. Bean. Sein Spanisch ist unverständlich-lallend. Wir müssen feststellen, dass Mister Beans Kopie offenbar besoffen ist. Mit viel Lächeln und Bitten bekommen wir einen Werkstatt-Termin für den Folgetag. Nach 30'000 km und vor der Fahrt in Boliviens Höhen soll das Merzli frisches Öl  bekommen und eigentlich auch einen neuen Dieselfilter – aber: no hay esto! Der Anschluss an den Diagnostik-Computer  zeigt, dass der Partikelfilter in gutem Zustand ist. Eine Prognose für die Fahrt nach Bolivien, wo wir längere Zeit über 4000 müM fahren werden, wollen die Fachleute uns nicht abgeben, ermuntern uns aber, die Fahrt zu machen (zu wagen).

Merzli muss bei Mercedes anstehen
Salta bietet eine sportliche Möglichkeit: Auf den Hausberg (Cerro San Bernardo) führen 1100 Treppenstufen! Es ist ein Kreuzweg und wir werweissen, ob es 10, 12 oder 14 Stationen gibt. Bei der 8. hoffe ich, dass es höchstens 10 sind – bei der 12. und immer noch Stufen vor mir,  weiss ich, dass es 14 sein müssen.  Das Terrassenrestaurant entschädigt: Es bietet uns einen Platz an vorderster Front und einen Blick über die Stadt, ins dichte Gewölk, wo die schneebedeckten 6000-er dahinter verborgen bleiben. Selbstverständlich hüpfen wir die Treppe auch wieder hinunter und lassen die Seilbahn links liegen, fahren lassen werden wir uns erst, wenn wir alt sind.

Nebst Treppen gabs auch Rampen
Der einzige Campingplatz der Stadt ist „en renovación“, d.h. wir schlafen auf der Strasse. Wir geniessen die Tage in der Stadt, suchen dies und jenes und finden jenes und dieses nicht (z.B. Ersatz für unsere sterbende Frischwasserpumpe). Dafür treffen wir Ernst und Isabelle, welche in vier Wochen Argentinien in einem dichten, aber interessanten Programm kennenlernen. Wir treffen auch Nadine und Daniel – Nadine arbeitet auf der ZKB in Fehraltorf – Zufall oder kleine Welt?

Als erstes im Chaco lernen wir die extrem kleinen und noch extremer  lästigen Mücklein kennen. Kaum 1/4 mm gross, aber stechen tun sie wie die grossen. Trotzdem lohnt sich der Abstecher zum Chaco-Nationalpark. Die grossen Tiere verbergen sich – aber wir geniessen eine Velotour durch die Feuchtsavanne.

Immer wieder schön, wenn wir die Velos auspacken
Einige Vögel sind recht zutraulich, vor allem, wenn Küchenabfälle anfallen. Das Papageien-Geschrei am Morgen (sie lassen sich nicht fotografieren) erinnert an Affengebrüll. (Und solche soll es im NP auch haben).

Wir teilen das Brot
Esteros del Iberò
Das grösste Feuchtgebiet Argentiniens liegt im Nordosten in der Provinz Corrientes.  Im heftigem Gewitterregen besuchen wir zuerst das grösste Wasserkraftwerk Argentiniens (Yacyretá) bei Ituzaingó (trotz diesem Namen nicht in China). Und bei strahlendem Wetter fahren wir am nächsten Tag Richtung Nationalpark. Was nach einer gemütlichen Tagesfahrt aussieht, wird zu einer abenteuerlichen Rutschpartie durch 120 km durchnässten, tiefen Sand und Schlamm.

Im Gleis geht's ja noch - fahr ja nicht daneben!
Halbherzige Entscheide sind auf dieser Piste fehl am Platz: Steckenbleiben darf  man ganz einfach nicht, weil a) niemand da ist, der einen rausziehen kann, b) weil’s auch neben der Strasse sumpfig ist und fester Untergrund fehlt, c) weil stundenlanges Schaufeln weder Lukas' noch meine bevorzugte Sportart ist. Entweder wir warten 1-2 Tage, bis es etwas abtrocknet (mit dem Risiko, dass es erneut zu regnen beginnt), oder wir fahren mutig und zackig in den Pflotsch hinein. Klar, dass Lukas die letztere Variante (mit meinem Einverständnis!) gewählt hat. Unsere Nerven und Muskeln sind angespannt, die Konzentration des Lenkers (zeitweise auch der Lenkerin!) ist hoch. Aber wir haben es geschafft und erreichen just beim Eindunkeln unser Ziel, Colonia Carlos Pellegrini. Auch das Dorf steht noch halb unter Wasser – umso grösser ist unsere Freude über den schön angelegten und trocken gehaltenen Campingplatz.

Sonst kommt es so raus
Gut beim Camping angekommen
Das mit Termitenhügeln durchzogene, topfebene und feuchte Land dient tausenden von Kühen und Pferden als Weideland. Allerdings machen die Höfe nicht den Eindruck, dass hier das grosse Geld verdient werden kann. Oder ist es so, dass die Verwalter hier draussen hausen, während die Besitzer in angenehmerer Umgebung das Leben geniessen? Unsere zukünftigen Filets und Hamburger dürfen aber hier ein artgerechtes und freies Leben haben.

Die ganze Vielfalt auf dem mit schwimmenden Inseln durchzogenen See präsentiert sich auf unserer Bootstour: Wir bestaunen Vögel mit elend langen Beinen und noch viel längeren Zehen, faul daliegende Kaimane, (sehen aus wie ausgestopft) – drei Monate alte Kaiman-Babys erinnern daran, dass Kaimane nicht nur fressen und dösen - Wasserschweine spielen im Wasser, ein Sumpfhirsch weidet gemächlich vor sich hin, ganze Teppiche von Seerosen und Binsen lassen den Fotoapparat arbeiten.


3 Monate alt sind die kleinen Kaimane
Die Mama lässt die Kleinen alleine

                                                                            Wassertaxi


Wir sind so begeistert, dass wir gleich noch eine Nacht-Bootstour  buchen. Da blinken uns funkelnde Augen an, grosse Wasservögel hocken schlafend auf den Bäumen, die Wasserhirsche haben den Bauch offenbar immer noch nicht voll. Und über allem funkelt ein traumhafter Sternenhimmel. Zwei Wochen schonte ich meinen entzwei gebissenen Zahn und habe wie Vogel Strauss die Tatsache, dass ich etwas unternehmen, also einen Zahnarzt aufsuchen muss, ignoriert. Dann bildete sich aber eine Eiterbeule. Diese half aufdringlich, schnell einen Zahnarzt zu finden.  Ein recht vertrauenswürdiger Eingang zu einer Zahnarztpraxis lässt mich meine Angst überwinden. Nach einer Wartezeit von einer halben argentinischen Stunde (mal vier ergibt schweizerische Stunden) begrüsst mich der junge Zahnarzt, er schaut und rückt gleich mit der Spritze an: Der Zahn müsse gezogen werden, da auch die Wurzel gespalten ist. Mit grosser Sorgfalt zieht er den riesigen Backenzahn in zwei Teilen heraus. Antibiotika für den entzündeten Kieferknochen und 25 Fr. für die stündige Arbeit! Ich werde bei meinem Zahnarzt in der Schweiz für das Implantat bestimmt das 100-fache hinblättern müssen.

Ein Wiedersehen mit Ruedi und Maria aus Österreich (das erste Mal trafen wir sie in Mendoza) und das Kennenlernen von Rosi und Klaus, ein deutsches Paar, welches sich vor einigen Jahren im  paraguayanischen Chaco niedergelassen hat, lassen uns noch einen Tag länger am Lago Iberá verweilen. Wir erfahren, dass im Norden alles überschwemmt ist (eigentlich wäre jetzt Trockenzeit – El Niño lässt grüssen) und wir die geplante Reise durchs Pantanal und den bolivianischen Chaco für die nächsten Wochen vergessen müssen. So wird uns genug Zeit für den Süden Brasiliens bleiben.

Seit einigen Tagen haben wir kein fliessendes Wasser mehr, weil die Pumpe kaputt ist. Nach vielen Hinweisen und Abklappern von Geschäften mit Pumpen scheint es in diesem Teil Argentiniens unmöglich, eine 12-V-Tauchpumpe zu kaufen. Wir hoffen, die Versprechungen via Mail einer Camperausbaufirma in Brasilien lösen sich nicht in leere Worte auf. Der Komfort von fliessendem Wasser lernen wir jetzt so richtig schätzen.

Damit wir eine unfallfreie Fahrt haben, werden wir – wie es sich in Argentinien gehört - noch die Grabstätte des Gauchito Gil in der Nähe von Mercedes besuchen.  Sein Segen sei nötig für eine weiterhin gute, genussvolle Reise. Ob wir ihm an einem der vielen, für ihn aufgebauten Altären wie üblich auch einen Raddeckel, eine Büchse Bier oder eine Hupe spenden werden?


Wir grüssen Euch alle herzlich
Brigitte und Lukas







Mittwoch, 11. April 2012

Andenpässe

Mendoza - Paso Agua Negra (4780müM)- La Serena - Copiapò - 
Paso de San Francisco (4720müM)




Kaum hatten wir unseren letzten Blog ins Netz gejagt, erreichte uns die Nachricht vom Tod von Brigittes Mutter.
Auf unserer Adieu-Tour vor unserer Abreise nahmen wir auch Abschied von Mama. Sie und wir wussten, dass er endgültig sein wird. Auch wenn wir den Abschied so auf zwei Hälften verteilen konnten, schmerzt er trotzdem sehr: Nie mehr ihre Hand schütteln, ihr nie mehr eine Karte schreiben dürfen, nie mehr gegen sie beim Jassen verlieren...
Wir hoffen, Mama Kesseli begleitet uns weiterhin.



Dem Himmel (und somit auch Mama) waren wir auf zwei Andenpässen – jeder über 4700 m hoch – besonders nah. Bei stahlblauem Himmel – aber häufig mit Faserpelzjacke – genossen wir die einmalige Landschaft. Kargste Vegetation, Salzseen, Vicuñas, Schneegipfel, Büsserschnee nehmen unsere Sinne gefangen. Die verschiedensten Felsformationen und -farben kann man weder mit der spanischen noch der deutschen Sprache beschreiben. Und wie soll ich das Gefühl ausdrücken, unter freiem Himmel auf 4000 m Höhe füdliblutt in einer fast 40° warmen Therme zu hocken?
Die lebensfeindliche Hochebene ist nicht übervölkert...
                           
Die Steilheit der Piste ist auch für
südamerikanische Lastwagen verdaubar

Sich aufwärmen auf 4000müM...
Für unser Cämperli waren die Passfahrten die Feuerprobe für das Hochland Perus und Boliviens. Ohne Mucksen und Stottern gehorchte das Auto den unzähligen Steigungswarntafeln. Aber ein ehemaliger Innerschweizer-Beck liess unsere Zuversicht kürzlich wieder einstürzen. Blumig erzählte er von zwei Schweizern, die mit ebensolchen Sprintern in Bolivien gestrandet waren. Fünf Wochen fürs Abschleppen und Warten auf die Ersatzteile, 8000 Fr. um sie zu kaufen, sämtliche Nerven und eine ungenannte Menge an Schmiergeld am Ausreisezoll wegen zu langem Aufenthalt im Reparaturland... Reisen bietet offenbar verschiedenste Arten von Erlebnissen!
Nun, ich bin zuversichtlich. Etwas Schlimmeres als die Taxifahrt in Mendoza wird uns bestimmt nicht passieren: Der Poker-Face-Taxista ballerte seinen Abbruch-Fiat mit wahnwitzigem Tempo durchs Stadtzentrum, jagte Hunde und Kinder auseinander, als wäre ich nicht sein Fahrgast, sondern ein Formel-1-Pilot-Headhunter. Als erstes musste ich mit einem Quilmes (spanisch für Feldschlösschen) mein Herz vom Hals runterspülen, wohin es mir nach den ersten 100 m gestiegen war. Warum wir ein Taxi und nicht das eigene Auto nahmen? Wegen den vielen verrückten Taxifahrern...

Nebst den unzähligen herrlichen Überraschungen von exorbitant schönen Landschaften gabs für uns auch eine Enttäuschung. Ab La Serena befuhren wir nordwärts die so berühmte Panamericana für ca 350 km bis Copiapò (bekannt wegen den geretteten Minenarbeitern). Zuerst fuhren wir durch Pazifik-Nebel, der sich dort sehr häufig wie Rauch an die Berge klammert. Erst nach 800 Höhenmetern wird er weggebrannt, dafür ist jetzt die Landschaft so flach und braun wie ein bis an den Horizont gespanntes braunes Tuch. Das mit Lastwagen wohlgefüllte Asphaltband verläuft oft schnurgerade neben einem aufgegebenen Bahntrasse (und meistens Zäunen) und der nicht endenden Pet-Sammelstelle beidseits der Strasse. Das durch Minen ausgebeutete Land sieht wie weggeworfen aus. Ein Lichtblick war das unscheinbare Nescafé-Häuschen mit der quitschfidelen Wirtin.

Nicht selten fahren Brigitte und ich abwechslungsweise mit dem Velo, während der andere das Auto transportiert. Obwohl wir so ohne jegliches Gepäck fahren können und die Landschaft, den Sand, das Summen von Insekten und die Begegnungen mit Hunden mit Tötungsabsicht besonders intensiv erleben, wissen wir jeweils den Cämperli-Kühlschrankinhalt zu schätzen. 
Wo hat die Touristin links wohl ihr Gepäck?
Während der letzten Tage trafen wir uns immer wieder mit einem jungen Schweizer Paar, das seit Monaten mit den Velos unterwegs ist. Klar, bot ich Sämi grosszügig mein Velo an und nahm seines inkl. dem mit Dutzenden von Kilos bepackten Anhängerli. Dummerweise beachtete ich erst jetzt, dass seine Oberschenkel – frei von Fett – doppelt so dick sind wie meine. Fazit: Willst du eine Cancellara-Figur, dann reise mit dem Velo durch Südamerika.  
                                

Heute ist Ostern! Uns wecken Güselmänner, die den keuchenden, nach Öl schreienden Uralt-Lastwagen mit dem reichlich bereitgestellten Basura beladen. Wenig später sehen wir die andere Seite: Die Kirche des Städtchens ist nicht nur voll, Gläubige stehen bis aufs Trottoir. Anschliessend an den Gottesdienst werden über ein Dutzend Kinder getauft. Nach jedem Taufakt wird das Kind mit Applaus in der Kirchengemeinschaft begrüsst.

Soeben haben wir für heute Abend unseren zweiten Standplatz bezogen. Der erste war in einer Mulde, hinter einigen Dornbüschen, in absolut unfruchtbarer Sandwüste. Während unserem Essen fuhr ein freundlicher Gaucho vor: „Privatland!“ In allerbestem Spanisch erklärte ich ihm, dass wir morgen weiterfahren, ein WC im Auto hätten und absolut keinen Abfall liegen liessen. Er funkte seinem Chef: Privatland! Ich betete meinen Argumentenkatalog nochmals vor, er funkte wieder mit seinem Chef. Aber gegen dessen Argumente, bestehend aus einem einzigen Wort, kam ich nicht an: Privat! Offenbar gibt es Sachen, die zu verstehen über den Horizont eines Schweizers gehen...



Ganz herzliche Grüsse von den von ihrer Reise begeisterten und bis anhin vollkommen zufriedenen
Lukas und Brigitte